Synodalität: Herausforderung für eine Kirche im Reformprozess

10 de Febrero de 2022

[Redaktion Feinschwarz]




Unter anderem mit der Ersten Kirchenversammlung des Volkes Gottes im November 2021 gehen die Menschen in Lateinamerika auf dem Weg der Kirchenreform weltweit voran. Sr. Maria Dolores Palencia und Rafael Luciani reflektieren, was Synodalität für jede/n Einzelne/n wie für die Kirche – auch in Europa bedeutet.

 

Rafael Luciani: In seiner Ansprache zur 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode am 17. Oktober 2015 sagt Papst Franziskus: „Der Weg der Synodalität ist das, was Gott sich von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet.“ Mit diesen Worten ruft Franziskus die ganze Kirche auf, sich über ein neues kirchliches Modell klar zu werden, das sich aus einer neuen Phase der Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils ergibt. In diesem Kontext erst lässt sich verstehen, was Synodalität im Hinblick auf die notwendigen Reformen bedeutet, wenn wir nach einer umfassenderen Definition der Kirche – sowohl in ihrem Sein als auch in ihrem Wirken – suchen, wie Paul VI. zu Beginn der zweiten Sitzungsperiode des Konzils gefordert hatte.

 

Sr. Maria Dolores Palencia: In Lateinamerika können wir Anzeichen eines neuen synodalen Modells der Kirche erkennen, z.B. die Umstrukturierung des CELAM, die Gründung von CEAMA, die Durchführung von Diözesansynoden und Vollversammlungen ebenso wie die neue „Kirchliche Versammlung von Lateinamerika und der Karibik“, über die wir heute sprechen.

 

Rafael Luciani: Eine neue kirchliche Vorgehensweise in synodalem Verständnis setzt die Umkehr der ganzen Kirche voraus und zwar indem man aufeinander hört, sich miteinander berät und den Konsens anstrebt. Der Papst hebt in der eben zitierten Ansprache hervor: „Eine synodale Kirche ist eine Kirche des Zuhörens, im Bewusstsein, dass Zuhören mehr ist als bloßes Hören. Es ist ein wechselseitiges Hören, bei dem jede und jeder etwas zu lernen hat.“ Authentisches Zuhören betrifft alle kirchlichen Subjekte – Laien, Priester, Ordensleute, Bischöfe, Papst – in horizontalen Beziehungen, die ihren Grund in der Taufwürde und im gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen haben (Lumen Gentium 10). Jedes kirchliche Subjekt trägt etwas bei, das die Identität, die Berufung und die Sendung der anderen vervollständigt (Apostolicam Actuositatem 6), auf der Grundlage dessen, was jedem einzelnen eigen ist (AA 29).

 

Sr. Maria Dolores Palencia: In diesem historischen Moment in Lateinamerika den Weg der Synodalität zu beginnen, verpflichtet jede und jeden von uns, zu überprüfen, wie wir in unserem alltäglichen Leben dem anderen Menschen zuhören und vor allem, wem wir zuhören. Gibt es in unseren Herzen eine Resonanz für die nicht genügend beachteten Stimmen, die zum Schweigen gebrachten Stimmen: die Stimmen der ursprünglichen Völker, die der afrikanisch-stämmigen Völker, die in mehreren Ländern unseres Kontinents unsichtbar gemacht wurden; die Stimmen der Frauen aus allen Kulturen; die unterdrückten Schreie der LGBTI-Menschen und -Gemeinschaften.

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Rafael Luciani: Das alles hat zur Voraussetzung, dass die ungleichen Beziehungen von Über- und Unterordnung beendet werden, die für den Klerikalismus typisch sind, und dass man sich zur konziliaren Logik der „gemeinsamen Bezogenheit“ (LG 32) und der Zusammenarbeit aneinander gebunden weiß, denn „eine synodale Kirche ist eine partizipative und mitverantwortliche Kirche“ (Internationale Theologische Kommission [ITK] Synodalität, Nr. 67). Partizipation ist kein Zugeständnis, denn sie beruht auf der Tatsache, dass wir alle vom Heiligen Geist ermächtigt sind. Deshalb ist es das Recht aller, angehört zu werden, aber es ist die Pflicht derjenigen, die ein Amt haben, durch Zuhören Ratschläge entgegenzunehmen.

 

Aber Zuhören ist weder allgemein noch abstrakt. Die Synode für Amazonien hat uns daran erinnert, dass die Kirche „sich stets von Neuem mit ihrer eigenen Identität auseinander(setzt), indem sie auf die Menschen, die Wirklichkeiten und die Geschichten des jeweiligen Gebietes hört und mit ihnen in einen Dialog tritt.“  (Querida Amazonia 66). Denn „die historischen, sprachlichen und kulturellen Bindungen, die in ihr die zwischenmenschliche Kommunikation und ihre symbolischen Ausdrucksformen bestimmen, prägen ihre spezifische Gestalt [und] befördern in ihrem konkreten Leben die Ausübung des synodalen Stils.“ (ITK, Syn. Nr. 77).

 

Sr. Maria Dolores Palencia: Folglich sollten wir unser Denken und unser Herz für die Ruah öffnen, die unsere traditionellen oder sklerotisierten Vorgehensweisen durchbricht und uns dazu bewegt, die neue kirchliche Identität zu erkennen, die in anderen geografischen, existentiellen und konjunkturellen Realitäten entsteht. Wir sollten die Gegenwart der Ruah in jenen Menschen entdecken, die aufgrund ihrer besonderen Gefährdung durch Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit es nicht riskieren, mit Protest und öffentlicher Anklage aufzubegehren, sowie in jenen, die strukturell zum Schweigen gebracht werden. Zu diesen stumm gemachten Stimmen gehört auch der Schrei der Schöpfung.

 

Rafael Luciani: Zuhören ist auch kein Selbstzweck. Es ereignet sich im Kontext eines umfassenderen Prozesses, wenn „die ganze Gemeinschaft in der freien und reichen Verschiedenheit ihrer Mitglieder zusammengerufen [wird], um zu beten, zu hören, zu analysieren, miteinander zu sprechen, zu unterscheiden und sich zu beraten, um die pastoralen Entscheidungen zu treffen“. (ITK, Syn. 68).

 

Sr. Maria Dolores Palencia: Unsere Schritte mögen klein und einfach erscheinen, unbedeutend vielleicht… Unsere historische Verantwortung besteht aber darin, alle heutzutage gebotenen Schritte zu tun, so klein sie auch erscheinen mögen: zu beten, zuzuhören, zu analysieren, zu dialogisieren und zu beraten… uns beraten zu lassen, damit alle Menschen an pastoralen Entscheidungen beteiligt sind, deren Folgen sie betreffen.

 

Rafael Luciani: Es besteht die Gefahr, Synodalität auf eine rein affektive, atmosphärische Verbesserung zu beschränken, ohne sie in konkreten Veränderungen wirksam umzusetzen, die das derzeitige klerikale Modell der Institution überwinden helfen. Die lateinamerikanische Kirche sollte die Kirchenversammlung dazu nutzen, um zu einer ständigen Synodalgestalt zu finden.

 

Sr. Maria Dolores Palencia: Die Zukunft unserer Sendung steht auf dem Spiel. Ohne einen tiefgreifenden Wandel, der das blockierte klerikale Modell mit seinen Privilegien hinter sich lässt, wird es in kurzer Zeit keine Ekklesia, kein Volk Gottes mehr geben, das die Hoffnung des Evangeliums verkündet und bezeugt. Das ganze Volk Gottes ist für ein flexibles, auf Veränderung zielendes Handeln verantwortlich, das aufmerksam die Bedürfnisse der neuen Generationen wahrnimmt. Gemeinsam mit ihnen könnte es eine partizipative Gemeinschaft in der Kirche hervorbringen, eine Gemeinschaft, die in neuen vielfältigen Formen versucht, Autorität zu leben, Konsens anzustreben und Entscheidungen zu treffen.

 

Rafael Luciani: Es gibt Hoffnungszeichen. Die Kirchliche Versammlung war nicht nur ein Treffen von Bischöfen, sondern das gesamte Volk Gottes hat seine Kirchenzugehörigkeit praktiziert.

 

Sr. Maria Dolores Palencia: Vor vielen Jahren haben wir in Lateinamerika zu lernen begonnen, kirchliche Gemeinschaften zu sein. Dass wir unsere Sendung inmitten von Verfolgung, Diskreditierung, Zweifel und Tod gelebt haben, bezeugen uns die vielen Märtyrerinnen und Märtyrer. Sie sind der Aufgabe treu geblieben, an vielen Ecken unserer Länder die Gemeinschaft der Kirche für den Dienst am das Reich Gottes im täglichen Leben immer wieder neu aufzubauen. Dieses historische Gedächtnis dürfen wir nicht verlieren. Ihr Lebenseinsatz wirft ein Licht auf die neue „Kirchliche Versammlung“. Es liegt in unserer Verantwortung, keinen Rückzieher zu machen, sondern innezuhalten, um das Neue zu erkennen, das sich anschickt, unser Tun, Herz und Leben zu durchdringen.

 

Rafael Luciani: Ich frage: Werden wir fähig sein, synodale Prozesse so zu konzipieren, dass Entscheidungen gemeinsam von allen als wirksamer Ausdruck des gemeinsamen Weges der Kirche erarbeitet werden? Wird es gelingen, dass die zuständige Autorität, die selbst zusammen mit den Gläubigen an allen Phasen des kirchlichen Prozesses beteiligt war, diese Entscheidungen ratifiziert – im Vertrauen darauf, dass der Heilige Geist durch das Volk Gottes gesprochen hat? Sind wir uns bewusst, dass die „Kirchliche Versammlung“ eine Vorgehensweise einleitet, die eine ständige Synergie zwischen dem Volk Gottes, dem Bischofskollegium und dem Bischof von Rom impliziert, und zwar jede Instanz entsprechend ihrer Funktion? Sind wir bereit, dauerhaft den alten Grundsatz des mittelalterlichen Kirchenrechts zu praktizieren, der besagt: “Was alle betrifft, muss von allen behandelt und entschieden werden“?

 

Sr. Maria Dolores Palencia: Es ist höchste Zeit, von unseren ursprünglichen Völkern, von den kirchlichen Basisgemeinschaften, von den in Stadtvierteln und Siedlungen gewachsenen Selbstorganisationen zu lernen. Es ist höchste Zeit, Volk gemeinsam mit dem Volk zu sein, um Volk Gottes werden zu können. Wie können wir uns gegenseitig dazu verhelfen? „Es hat alles seine Zeit… eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten…“ (Koh 3,2).

 

Dies ist unsere Zeit und wir haben nur diese. Vielleicht gibt es keine andere Zeit mehr… Es ist die Zeit aller Menschen auf diesem Kontinent, die erkennen wollen, auf welchen Wegen wir heute der Nachfolge Jesu treu bleiben? Mit welchen Mitteln wir heute das gemeinschaftliche soziale Gefüge neu strukturieren, Frieden und Gerechtigkeit schaffen sowie Konsens in der Kirche erwirken? Der Geist weht… Lasst uns jetzt beginnen, sonst gibt es kein Morgen.

 

Text: Ein Gespräch zwischen Rafael Luciani, Venezuela, Theologe, Mitglied der Vatikanischen Theologischen Synodenkommission, und Sr. Maria Dolores Palencia, Mexico, Mitarbeiterin des Lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM) und Mitglied der Ersten Kirchlichen Versammlung von Lateinamerika und der Karibik. Verschiedene katholische Hilfswerke, darunter auch die Fastenaktion (CH) mit Helena Jeppesen-Spuhler, die den Kontakt zu den Gesprächsführenden hergestellt hat, haben die Kirchenversammlung in Mexiko unterstützt und fördern den weltkirchlichen Austausch. Norbert Arntz hat den Text aus dem Spanischen übersetzt.

 

Im April erscheint von Rafael LucianiUnterwegs zu einer synodalen Kirche. Impulse aus Lateinamerika in der Edition Exodus 2022.

Bild: Pressebüro der Kirchenversammlung.

 

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